Die Drei Grazien, Eros und ich

Theodor Fontane sagte: „Man sieht nur, was man weiß!“ Ein kluger Mann, dieser Fontane. Bevor ich also meine Gedanken zur Skulptur „Die Grazien mit dem Pfeil von Eros und Eros spielt die Leier“ niederschreibe, möchte ich die mythologische Grundlage in Erinnerung rufen.

Die drei Grazien – Aglaia („Glanz“, „Anmut“), Euphrosyne („Freude“, „Frohsinn“) und Thalia („blühendes Glück“) – sind nach Hesiod Töchter des Zeus und der Eurynome, der „Großen Göttin aller Dinge“. Sie gehören zum Gefolge der Aphrodite, der Göttin der Liebe und sinnlichen Begierde, die von den Römern als Venus verehrt wurde. Die Grazien kümmern sich um die Prozesse des Werdens und Seins, sorgen für Wachstum und Gedeihen in der Natur. Und sie wachen über den Lauf der Zeit.

Doch ihre Aufgabe ist nicht nur kosmisch, sondern auch zutiefst menschlich: Sie verkörpern das Prinzip der Freigebigkeit und stehen für das Geben, Empfangen und Erwidern von Wohltaten. Die Grazien machen das Leben auch in sozialer Hinsicht fruchtbar und freundlich. Wenn sie eng beieinanderstehen und sich schwesterlich umarmen, zeigt das, dass diese drei Aspekte Hand in Hand gehen – oder besser gesagt: Arm in Arm.

In der Skulptur von Bertel Thorvaldsen (1770–1844) betrachten sie interessiert und vorsichtig einen Pfeil, den sie offensichtlich aus Eros‘ Köcher genommen haben. Der kleine Gott sitzt zu ihren Füßen und hat gerade seine Leier beiseitegelegt. Er blickt zu ihnen auf.

Hier wird es philosophisch: In Platons Symposion erklärt Diotima dem Sokrates, dass Eros nicht der Gott der Liebe sei, sondern „der Gott des Sich-Verliebens“. Diese Pfeile verschießt Eros im Auftrag seiner Mutter Aphrodite. Wer von einem solchen Pfeil getroffen wird, den durchdringt „unbedingte Liebe“, „totale Hingabe“ und ein „bedingungsloses Ja zum Leben“.

Für wen ist dieser Pfeil gedacht? Ich denke, für jeden Menschen, der bereit ist, seine Rüstung abzulegen – die Rüstung aus Status, Wissen und Werturteilen. Mit anderen Worten: für jeden, der sich nackt und verletzlich macht. Wer vom Pfeil des Eros getroffen wird und das absolute „Verliebtsein“ erfährt, wer vorbehaltlos „Ja zum Leben“ sagt, dem schenken die Grazien Glanz, Fröhlichkeit und blühendes Glück.

Aus diesem unbedingten Ja zum Leben – und dazu gehören auch Alter, Krankheit und Tod – erwachsen Mitgefühl und Offenheit für den Mitmenschen, besonders für den Notleidenden. Das ist für mich die wichtigste Voraussetzung für aufrichtige Liebe.

Mit zunehmendem Alter erkennt man eine schlichte Wahrheit: Das letzte Hemd hat keine Taschen. Im Angesicht des Todes wird einem bewusst, dass man so nackt geht, wie man gekommen ist. Nicht einmal das letzte Hemd kann man mitnehmen. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass einem die Liebe, die man im Leben erfahren hat, bleibt.

Vivat Amor!


Zu Thorvaldsens Skulptur: Die Statuengruppe wurde 1842 als Gipsmodell geschaffen und steht heute im Thorvaldsen Museum in Kopenhagen. Meine Kollage entstand im August 2023 während eines Besuchs in diesem wunderbaren Museum.

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