Die Wahlverwandtschaften

Ich möchte hier noch ein weiteres Werk Goethes vorstellen, um zu zeigen, dass die Themen, mit denen er sich beschäftigt hat, nicht „von gestern“ sind. Auch hier zeigt sich sein humanistischer Geist und gelegentlich auch sein Humor.

Ich werde diesen Text, wie auch die Gedichte, unter J.W.G. einordnen, da sie nicht in das chronologische Reisetagebuch passen.

 

 

Die Wahlverwandtschaften

 

Die Arbeit am Roman „Die Wahlverwandtschaften“ begann 1770 und dauerte bis 1809. Interessant ist, wie lange er an seinen Werken arbeitete, bis er sie vollendete. Am Faust arbeitete er 60 Jahre lang. Kein Wunder, dass der Faust von Lebenserfahrung nur so durchdrungen ist.

 

 

Eduard und Charlotte führen eine glückliche Ehe. Als Eduards Freund Otto und Ottilie, Charlottes Adoptivtochter, bei ihnen einziehen, nehmen die Verwicklungen ihren Lauf: Partnertausch mit doppeltem Ehebruch, Magersucht, Kindstod und vieles mehr. Am Ende sind fast alle tot. Eine kurze – sehr lustige – Inhaltsangabe kann man sich unter folgendem Link ansehen  „Die Wahlverwandtschaften to go“ .

 

Zu Goethes Zeit entwickelte sich die Alchemie zur wissenschaftlichen Chemie. Im vierten Kapitel der Wahlverwandtschaften stellt er das „chemische Gleichnis“ vor. Dieses Gesetz der Wahlverwandtschaften der Elemente überträgt Goethe auf die Beziehungen seiner Protagonisten.

 

Die vier Protagonisten erleben Anziehung, Abstoßung und Enthaltsamkeit mit der unbedingten Kraft eines Naturgesetzes. Wie die chemischen Elemente verhalten sich auch die Menschen, sie suchen einander oder fliehen voreinander. Liebe ist in dieser Geschichte nichts Metaphysisches, sondern eine Naturgewalt.

 

Die vier Personen sind nicht wirklich und wahrhaftig Herr oder Frau ihrer Gefühle, sondern sie müssen sich der Macht der Liebe wie einem Naturgesetz beugen. Diese Naturgewalt ist stärker als Vernunft, Tugend, Moral, Tradition oder Pflicht; sie ist unwiderstehlich. Wenn nicht, dann leiden sie, weil Natur und Kultur aufeinander prallen.

 

Goethe sah sich als Dichter und Naturforscher. Goethe wollte die Natur des Menschen vorurteilsfrei erforschen, und dazu gehörte neben der heterosexuellen auch die gleichgeschlechtliche Liebe, wie er sie zumindest aus der antiken griechischen Literatur und Mythologie kannte. Goethe interessierte sich deshalb auch für die ambivalente Beziehung zwischen Eduard und Otto.

 

Der Mann verlangt den Mann; er würde sich einen zweyten erschaffen, wenn es keinen gäbe: eine Frau könnte eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, sich ihres Gleichen hervorzubringen.“ (WV II7, 241)

 

Das Buch wurde sehr unterschiedlich aufgenommen. Vielen ging die Kritik am Zeitgeist und an der Moral der damaligen Gesellschaft zu weit. Einem Teil des Publikums fehlte die Möglichkeit, das Ambivalenz oder die Selbstbestimmung des Individuums anzuerkennen. Goethe legte nicht viel Wert auf eine allgemeine Meinung. So lebte er mit Christiane 18 Jahre lang in aller Öffentlichkeit in „unmoralischer, wilder Ehe“!

 

Goethe schrieb 1809 in einem Brief an Karl Friedrich Reinhard:

„Wenn die Menge diese Werkchen nebenher liest, so kann es mir ganz recht sein. Ich weiß zu wem ich eigentlich gesprochen habe und wo ich nicht missverstanden werde. Das Publikum, besonders das deutsche, ist eine närrische Karikatur des demos, es bildet sich wirklich ein, eine Art von Instanz, von Senat auszumachen und im Leben und Lesen dieses oder jenes wegvotieren zu können, was ihm nicht gefällt. Dagegen ist kein Mittel als ein stilles Ausharren. Wie ich mich denn auf die Wirkung freue, welche dieser Roman in ein paar Jahren auf manchen beim Wiederlesen machen wird.“

 

Adressaten dieses Romans waren Menschen des Sturm und Drangs, die bereit waren, ihr Handeln zu hinterfragen und die Gesellschaft zu verändern u.a. unter dem Eindruck der französischen Revolution von 1789.

 

Wie in einer modernen Familien-Aufstellung spielt Goethe in dem Roman die möglichen „chemischen“ Verbindungen durch. Sind die vier gleichwertige und gleichberechtigte Partner, wenn man ihre wirtschaftliche Abhängigkeit der Beiden von dem adeligen Paar berücksichtigt? Kann von „Wahl“-Verwandtschaften die Rede sein, wenn der Hauptmann Otto arbeitslos und Ottilie elternlos ist? Oder müsste man hier nicht korrekter Weise von „Keine-andere-Wahl-Verwandtschaft“ sprechen?

 

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