Der Erlkönig

Der Erlkönig

Goethe lässt in dieser Ballade wieder einen schwachen Menschen zu Wort kommen. Viele von uns haben dieses Gedicht auswendig lernen müssen. In der Schule haben wir über viele Aspekte dieses Gedichtes gesprochen, aber ganz sicher nicht darüber, dass es sich bei dem Sohn um ein Opfer des Missbrauchs-Opfer des Erlkönigs handeln könnte. Warum sonst ruft der Erlkönig nach dem fremden Kind?

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;

 

Grafik von Julius Nisle

Ich bin immer wieder überrascht, was man beim Lesen dieser „alten Schinken“ entdeckt. Sexualisierte Gewalt – hier an einem Kind – ist keine neue Entwicklung. In diesem Gedicht setzt sich Goethe mit diesem Thema auseinander.

 

Hier geht es nicht um homoerotische „Verführung“ nach griechischem Vorbild, sondern um brutale Gewalt gegen ein Kind. Es ist keine wie auch immer geartete „Philie“ im Spiel. Der Knabe wird nicht geliebt wie Ganymed. Und es gibt einen großen Unterschied in den Machtverhältnissen.

 

Ganymed ist kein Kind, sondern ein selbstbewusster Jüngling, der mit Jupiter flirtet. Der Erlkönig schildert ein Verbrechen an einem Kind, das zu Goethes Zeit, aber auch im antiken Griechenland mit dem Tode bestraft wurde.

 

Das Gedicht gibt dem Opfer eine Stimme. Warum hört der Vater sie nicht? Hoffentlich hören wir die leisen Stimmen in unserer Umgebung, wenn sie rufen!

 

Der Erlkönig

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ –

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. –

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ –

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ –
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

 

Goethe übernahm für drei Jahre die Erziehung des elfjährigen Fritz von Stein, Sohn der Hofdame Charlotte. Wenn er zu Besuch war, schlief er mit dem 23-jährigen Goethe in einem Zimmer. Fritz begleitete Goethe auch auf seinen Reisen. Das alles mag im 18. Jahrhundert als harmlos erschienen sein. Der Erlkönig entstand 1782, als Fritz 10 Jahre alt war. Hat Goethe ihn vielleicht vom Weimarer Hof weggeholt, um Fritz vor dem Erlkönig in Sicherheit zu bringen? Wir wissen es nicht!

 

 

 

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben