Weihnachten – Zeit für Zuversicht

Es war Dienstag, der 16. Dezember 2025. Ich war zu einer Podiumsdiskussion im Rathaus verabredet und hatte noch eine halbe Stunde Zeit.

Ich wartete vor dem Hamburger Rathaus auf eine Freundin. Es war einer dieser Dezemberabende, an denen sich die Stadt in ihre Weihnachtsillusion hüllt: Glühweinduft, Lichterketten, das sanfte Gemurmel zufriedener Menschen, die zwischen den Buden flanieren. Eine Kulisse der Gemütlichkeit, sorgfältig inszeniert.

Dann sah ich ihn. Einen Mann, Ende dreißig vielleicht, der mit einem großen selbstgemalten Plakat vor dem Rathausportal stand. Die Schrift war groß, verzweifelt unleserlich in ihrer Hast geschrieben: “Das Jugendamt hat mir heute meine Kinder weggenommen. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht wohin.” Darunter noch etwas über sein Recht als Vater, über Ungerechtigkeit, über seine Hilflosigkeit.

Die Weihnachtsmarktbesucher gingen an ihm vorbei. Manche warfen einen kurzen Blick auf das Plakat, die meisten schauten weg, noch bevor sie die ersten Worte gelesen hatten. Zu verstörend, zu real, zu sehr ein Riss in der festlichen Fassade. Man kam ja schließlich hierher, um sich wohl zu fühlen, nicht um mit dem Leid eines Fremden konfrontiert zu werden. Also: schnell weiter zum nächsten Glühweinstand, zum nächsten Lächeln.

Ich weiß nicht genau, warum ich auf ihn zuging. Vielleicht weil ich noch Zeit hatte. Vielleicht weil mich dieses kollektive Wegschauen störte. Vielleicht auch nur, weil ich nicht anders konnte.

Er stand da in völliger Schockstarre, das Plakat vor sich haltend wie einen Schutzschild, und doch völlig schutzlos. Seine Augen waren leer und gleichzeitig voller Panik – dieser Blick von jemandem, der nicht mehr weiß, was er tun soll, der nur noch hofft und harrt. Hofft, dass irgendjemand innehält. Hofft, dass jemand ihm sagt, was zu tun ist. Hofft, dass die Kinder einfach zurückkommen, wenn er hier nur lange genug steht.

“Das hört sich schlimm an. Was ist passiert?”, fragte ich.

Er schaute mich an, als hätte er vergessen, dass Menschen einander ansprechen können. Dann brach es aus ihm heraus: Heute Morgen seien sie gekommen, das Jugendamt, mit der Polizei. Hätten die Kinder mitgenommen. Keine Erklärung, keine Information, wohin. Seine Stimme überschlug sich, die Sätze stolperten übereinander. Die Angst hatte ihn vollständig im Griff.

Ich versuchte, ihn zu beruhigen. “Ihre Kinder sind nicht von Kriminellen entführt worden”, sagte ich. “Das Jugendamt wird sich um sie kümmern. Sie sind in Sicherheit.” Ich wusste nicht, ob das stimmte. Ich wusste nicht, was vorgefallen war, ob es Gründe gab für diese drastische Maßnahme. Aber ich sah seine Schockstarre und wusste, dass er jetzt vor allem Klarheit brauchte, nicht noch mehr Verzweiflung.

“Was soll ich tun?”, fragte er. “Ich stehe hier, bis sie zurückkommen.”

Da war es wieder: Hoffen und Harren. Die Lähmung dessen, der glaubt, durch schiere Präsenz, durch Ausharren, durch verzweifeltes Warten die Welt verändern zu können. Als würde das Schicksal sich erbarmen, wenn man nur lange genug leidet. Seine Hoffnung richtete sich auf Umstände, die außerhalb seiner Kontrolle lagen – dass durch seine Demonstration vor dem Rathaus sich irgendwie, irgendwann etwas erfüllen würde. Aber Hoffnung trägt immer auch die Möglichkeit der Enttäuschung in sich. Sie ist ein Warten mit ungewissem Ausgang.

“Sie müssen zu einem Anwalt”, sagte ich. “Jemand, der sich mit Familienrecht auskennt. Der kann einen Eilantrag stellen, Auskunft über den Verbleib der Kinder verlangen, Ihre Rechte klären.”

Er starrte mich an, als hätte ich einen Zauberspruch gesprochen. “Einen Anwalt?”

Ich zog mein Handy heraus, googelte “Fachanwalt Familienrecht Hamburg”, fand eine Kanzlei am Neuen Wall. Es war kurz nach fünf, die Kanzlei hatte noch bis sechs geöffnet. “Sie können jetzt gleich hingehen”, sagte ich. “Noch heute Abend. Schildern Sie die Situation. Das ist der erste Schritt.”

Mit einem Mal sah ich so etwas wie Erleichterung in seinem Gesicht. Zuversicht! Eine Richtung. Ein Weg, der sich bahnte. Die Schockstarre begann zu weichen. Seine Hände, die das Plakat verkrampft gehalten hatten, entspannten sich ein wenig.

“Danke”, sagte er. “Danke. Ich… ich wusste nicht… danke.”

Er wiederholte es mehrmals, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass es tatsächlich einen nächsten Schritt gab und er hingehen konnte. Dann faltete er das Plakat zusammen, klemmte es unter den Arm und ging zuversichtlich los.  Er war wieder in Bewegung gekommen und wieder handlungsfähig geworden.

Ich blieb zurück und schaute ihm nach. Um mich herum strömten weiter die Weihnachtsmarktbesucher, als wäre nichts geschehen. Vielleicht war auch nichts geschehen – außer dass ein Mann aufgehört hatte zu hoffen.

Nicht die Hoffnung – die wäre zu fragil, zu abhängig von Umständen, die ich nicht kenne. Sondern die Zuversicht, dass jemand, der aus der Schockstarre erwacht und wieder zu gehen beginnt, seinen Weg finden wird.

Es ist der Unterschied zwischen Hoffnung und Zuversicht. Hoffnung kann lähmen, wenn sie nur wartet, wenn sie sich an ein erwünschtes Ergebnis klammert, das außerhalb unserer Macht liegt. Dann macht sie uns zum Narren, wie es im Sprichwort heißt. Hoffen und Harren – das ist das verzweifelte Warten auf etwas, das wir nicht beeinflussen können, das Festhalten an einer Vorstellung, wie die Dinge sein sollten. Zuversicht hingegen – diese andere, stabilere Haltung – gibt uns die Fähigkeit zurück zu handeln, auch wenn wir das Ergebnis nicht kennen. Sie fragt nicht “Wird alles gut?”, sondern “Was kann ich jetzt tun?” Sie gründet auf dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und auf verlässliche Zusammenhänge – Zusammenhänge, die er im Einzelnen nicht kannte, sehr wohl aber ein Anwalt. Es ist diese innere Haltung, einen Weg zu finden, und sei es mit der Hilfe von Fremden, die zum Ziel führt. Die Hoffnung fragt: Wird es gut ausgehen? Die Zuversicht sagt: Ich bin bereit für das, was kommt.

Ich weiß nicht, was aus dem Mann und seinen Kindern geworden ist. Ob der Anwalt helfen konnte, ob es gute Gründe gab für die Inobhutnahme, ob die Familie wieder zusammengefunden hat. Das Ende dieser Geschichte liegt nicht in meiner Hand.

Ich wünsche dem Unbekannten, dass er den richtigen Schritt zur Lösung seiner Probleme gemacht hat und die Familie ein friedliches Weihnachtsfest verleben wird. 

Meine Freundin kam, wir tranken Glühwein, sprachen über andere Dinge. Aber der Mann mit dem Plakat blieb in meinen Gedanken. Eine sonderbare Weihnachtsgeschichte ohne Happy End. 

Es bleibt nur die Erinnerung daran, dass es manchmal das Wichtigste ist, jemandem zu zeigen, dass es einen nächsten Schritt gibt.

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