
Hungrig pilgere ich nach Montmartre und erklimme, heftig schnaubend, den nur 160 Meter hohen Hügel, auf dem die Sacré-Cœur thront. Die strahlende Sonne wärmt die milde Luft auf 18 Grad. Die morgendliche Pilgertour, noch vor dem Frühstück, wird so zur echten Herausforderung.

Die Warteschlange vor dem Eingang der Kirch eist so lang, dass ich wohl erst am Montag Einlass erhalte.
Treppab ist ein Kinderspiel. Wie auch das Karussellfahren am unteren Ende der Treppe. Ist das Karussell vielleicht eine Anspielung darauf, dass auch Religion eine Illusion ist – wie das Holzpferd, das sich im Kreis dreht?

Ich hatte auf Google Maps nicht erkannt, dass das Musée de Montmartre auf der Höhe der Basilika liegt. Sisyphos lässt grüßen, während ich mich erneut bergauf mühe.
Vor der neuen Anstrengung frühstücke ich „petit“ und beobachte dabei den endlosen Strom der Touristen. Die aufgefangenen Kommentare amüsieren mich. Ich bin nicht der Einzige, der pustend die Treppen bezwingt.


Der Place de Terre lädt mit seinen Künstlern kurz zum Verweilen ein. Ich bin gespannt, ob sich die Mühe lohnt. Ein unverhofftes Wiedersehen macht jede Mühe lohnenswert. Das Museum erzählt die Geschichte Montmartres in Fotos, Postkarten und alten Revue-Theaterplakaten – was mich nur mäßig interessiert.

In der dritten Etage – schon wieder Treppensteigen – stehe ich plötzlich im Atelier von Suzanne Valadon. Ihrem Werk war ich im vergangenen Jahr in einer großen Ausstellung im Centre Pompidou-Metz erstmalig begegnet (siehe hier). Die Valadon Biografie von Elke Vesper lässt für mich das Montmartre der Künstler lebendiger werden als jede Postkarte. Nichts geht aber über die Picasso-Biografie von Norman Mailer. Zwei wunderbare Bücher, die man im Winter liest, um dann im Frühling nach Paris zu fahren.

Der große Garten hinter dem Rodin-Museum ist eine ruhige, grüne Oase, bewohnt von bronzenen Skulpturen. Um sie allein fotografieren zu können – ohne andere Besucher – muss ich hin und her streifen wie der Panther von Rainer Maria Rilke. Er schrieb das Gedicht bevor er Privatsekretär von Rodin wurde.
Im Garten-Café lasse ich es mir gutgehen. Ich schreibe Notizen fürs Tagebuch.




Im Museum begegnen mir sehr viele Menschen, da heute der Eintritt frei ist. Dot sehen sie wie ich Rodins Arbeiten in Marmor und Modelle in Ton. Aber nicht nur ihnen, sondern auch den Werken von Camille Claudel. Ihre Lebensgeschichte liest sich wie ein Roman – leider mit tragischem Ende.

Mein Tag endet ebenfalls tragisch: Die meisten Restaurants in der Rue Mouffetard haben sonntags geschlossen. Die übrigen bieten kein vegetarisches Essen an. Kaum zu glauben, aber wahr. Ich wandere nach Hause mit der Hoffnung, dass eines der beiden Restaurants vor meiner Haustür geöffnet ist. Hungrig und müde muss ich auch hier weiterziehen – bis zum Boulevard Henri IV, wo ich schließlich eine Poké Bowl esse. Bei Henri IV fällt mir ein, dass ich das letzte Viertel des Heinrich-Mann-Romans noch zu lesen habe.
Das Rodin-Museum zählt zu meinen Lieblingsorten, doch heute haben mich die Skulpturen nicht so berührt wie bei früheren Besuchen. Auf meinen Reisen nach Italien und Kopenhagen habe ich mich intensiv mit klassischer Bildhauerei beschäftigt – besonders mit den Arbeiten von Bertel Thorvaldsen (siehe hier). In handwerklicher Meisterschaft ist Thorvaldsen Rodin weit überlegen. Auch die dramatische und psychologische Gestaltung seiner Figuren ist subtiler. Rodins Qualität liegt in der Darstellung der Essenz seiner Figuren. Das war zu seiner Zeit bahnbrechend und wirkt auch heute noch modern. Nur: So recht gefallen will es mir heute nicht.

Der Boulevard Bourdon auf Google Maps wirkt wie ein Versprechen: Boote, die sanft im Wasser schaukeln, eine Allee, gesäumt von Bäumen, mitten in der Stadt. Wer würde dort nicht gern wohnen? Doch dieser Eindruck ist eine Illusion. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Gentrifizierung, Wohnungsknappheit und explodierende Mieten haben ihre Spuren hinterlassen. Immer mehr Menschen campieren – nicht aus Abenteuerlust, sondern aus Not. Auch in Paris. Das ist keine romantische Vorstellung eines Clochards, sondern die bittere Wahrheit eines wachsenden Problems.


Ab 18:30 Uhr packe ich den Koffer. Morgen geht es mit dem Zug weiter. Müde von zwölfeinhalb Kilometern und ungezählten erklommenen Stufen – sie summieren sich auf 38 Etagen, gehe ich heute früh zu Bett. Meine Batterien müssen aufgeladen werden.