
Londoner U-Bahnhöfe liegen sehr tief unter der Erde. Und bei dem Gedränge bin ich etwas vorsichtig!
Heute ist ein ganz besonderer Tag. Vor genau 724 Tagen, am 3. Oktober 2023, begann meine Recherche zum Leben von Dr. Walter Lippmann, der bis zu seinem Tod in meiner Wohnung gelebt hatte. Was mit einem schlichten Namensschild begann, entwickelte sich zu einer Leidenschaft eigener Art: Zwei Jahre lang suchte ich buchstäblich jeden Tag bis zu zehn Stunden in Archiven und Bibliotheken nach Spuren dieses Mannes. Das Ergebnis ist ein 560-seitiges Manuskript. Kurz vor dieser Reise stellte ich auch die englische Übersetzung fertig.

Den bei London lebenden Nachkommen schickte ich eine Kopie mit der Bitte, das Namensschild – mit dem diese Episode meines Lebens begann – zurückgeben zu dürfen. Nun sind wir im Clermont Hotel, Victoria, verabredet.
Ich bin überglücklich und gleichzeitig nervös wie vor meiner ersten Begegnung mit dem Dalai Lama im Jahr 1998. Als Versicherungsmakler habe ich unzählige Gespräche geführt, doch heute weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Ich beschließe, es wie der Dalai Lama zu machen: einfach nur den Menschen zu sehen, der mir gegenübersteht und ohne an die ganze Geschichte und ihre Implikationen zu denken.

Weil ich befürchte, dass mir im entscheidenden Moment die Stimme versagt, schreibe ich in Harry’s Bar eine Widmung für die Übergabe – auf eine Karte mit Orangenmotiv, eine Anspielung auf die Plantage – und trinke kaltes Wasser, um mich zu beruhigen.
Eine halbe Stunde zu früh sitze ich im Hotelfoyer. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte und gehen in den pompös eingerichteten Tearoom. Wir bestellen High Tea: feine Schnittchen, Scones mit Clotted Cream, ein paar Petit Fours und natürlich Tee. Zwei Stunden vergehen wie im Flug. Zum Abschluss übergebe ich das Namensschild in die Hände der Familie – dorthin, wo es hingehört.

Mein Glück lässt sich kaum beschreiben. Vor allem aber bin ich erleichtert und vielleicht zehn Zentimeter größer, weil das Gewicht dieses Projekts von meinen Schultern gefallen ist und ich mein Ziel erreicht habe. Ein Traum ging in Erfüllung.
Ich sage oft zu Projekten ja, ohne zu wissen, welche Arbeit und in welchem Umfang auf mich zukommt. Oft geht es bis an die Belastungsgrenze, aber die Freude beim Erreichen des Ziels ist grenzenlos. Vielleicht ist es ganz gut, dass man zu Beginn nur den „Zauber des Anfangs“ – wie Hermann Hesse es nennt – spürt. Die Freude an der Selbstwirksamkeit trägt einen über Probleme und Routinen hinweg. Eine Portion Gratifikationsaufschub erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man durchhält, wenn man müde ist, nicht weiterweiß oder die Technik streikt.
Am Ende steht das Glück, die eigene Idee verwirklicht zu haben. Ich habe gelernt, in Archiven zu arbeiten, eine riesige Menge Informationen zu ordnen und daraus einen umfangreichen Text zu formen, bis hin zum fertigen Buchmanuskript. Abgesehen davon gab es viele wunderbare menschliche Begegnungen, für die ich sehr dankbar bin.
Um eine oft gestellte Frage zu beantworten: Ja, ich würde es aus genau diesen Gründen noch einmal tun.



Manchmal siegt die Poesie über der Tristesse! Oder Neudefinition des englischen Rasens!


Beschwingt wandere ich durch die Stadt zu meiner Unterkunft. Ein kurzer Abstecher führt mich in die National Gallery, wo ich mich freue, zwei alte Bekannte wiederzusehen, die ausdrücken, was ich heute empfinde: ein Bild von Jean-François Millet – L’Angélus – Das Abendgebet für die gute Ernte. Das Bild hängt eigentlich im Musée d’Orsay in Paris. Auch „Die japanische Brücke“ von Claude Monet berührt mich heute mehr als bei früheren Begegnungen. Beide drücken aus, was ich in Worte nicht fassen kann.

Am Ende des Tages sind es 14.019 Schritte. Erleichterte Schritte, die mich möglicherweise einem neuen Abenteuer entgegentragen.