
Nicht immer ist die Umgebung so schön und weit, wenn ich mich morgens zur Mediation hinsetze.
Die Nacht war samtschwarz. Der See verschmolz mit den Bergen – kein Licht, kein Laut, nur die funkelnden Sterne, wie Diamanten über dem stillen Herz der Highlands. Niemand wohnt in Sichtweite am Wasser, kein Fenster leuchtet – so bleibt alles eins: Berg, See, Himmel. Und dann, fast plötzlich, steigt das erste Licht über den Bergkamm. Die Gipfel färben sich golden, während der Loch noch im Schatten liegt. Ein Sonnenaufgang wie gemalt – still, majestätisch, wie am ersten Tag der Schöpfung.


Die Fahrt nach Glasgow ist nicht lang, das Einchecken im Motel One erst ab 15 Uhr möglich. Ich habe also Zeit für die 110 km. Nach der erfrischenden Pause am Falloch zieht es mich weiter zum Loch Lomond – ein Spaziergang am Ufer bei Balmaha bringt Ruhe und Weite. Der Falls of Falloch rauscht kraftvoll zwischen den Felsen hindurch – ein perfekter Ort für eine kurze Wanderpause. Das Wasser ist kristallklar und eisig kalt, wie ich beim Händewaschen feststelle.


In dem kleinen Ort Luss mache ich Mittagspause unter einem Sonnenschirm in einem Gartencafé. Von hier aus fahren kleine Schiffe über den Loch Lomond. Die Gemeinde wirkt wie einer Folge von Inspector Barnaby entsprungen: winzige Steinhäuser, liebevoll renoviert, mit Vorgärten, die um den Titel „Schönster Vorgarten des Jahres“ konkurrieren mit Rosen, Lavendel, Herbstblumen.
Es fühlt sich an wie ein Spaziergang durch das lebendig gewordene Bild aus „English Garden“. Gepflegt, ein bisschen übertrieben perfekt, aber gerade deshalb so einladend. Hinter jeder Hecke scheint eine Geschichte zu lauern, als wäre die Kulisse bereit für den nächsten Sonntagskrimi. Ich mag diese Serie mit ihrer Mischung aus pittoresker Kulisse und liebenswerten, skurrilen Charakteren sehr. Vor allem gefällt mir, dass man hier mit ihnen ins Gespräch kommen kann.


Eigentlich wollte ich noch in den Botanischen Garten, vor allem wegen der riesigen alten Gewächshäuser. Da ich noch immer kein britisches Geld besitze, konnte ich zum ersten Mal eine Parkuhr nicht bezahlen – Kreditkarte wurde nicht akzeptiert. So bleibt mir der berühmte Kibble Palace verwehrt – ein Grund, wiederzukommen.
Zu gern hätte ich das Kelvingrove Museum in Glasgow besucht, weil es mich an das National Museum of Scotland in Edinburgh erinnert. Beide versammeln Kunst, Geschichte und Naturwissenschaften unter einem Dach. Mit typisch britischer Exzentrik hängt ein Gemälde von Dalí neben einem ausgestopften Elefanten, als wären sie alte Bekannte. Alles ist liebevoll und mit einem Augenzwinkern kuratiert. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es in meinem Kopf ganz ähnlich zugeht: assoziativ, überraschend, charmant, ein bisschen verschroben – aber immer mit der Lust am Entdecken verbunden.
Ich gab den Wagen nach 14 Tagen und 1.304 Meilen oder 2.098 km zurück. Ein freundlicher Taxifahrer mit starkem Glaswegian-Akzent brachte mich zum Motel One, das vis-à-vis vom Central Station liegt. Er erzählt mir stolz von seiner Stadt und gibt mir noch ein paar Tipps für den Abend. Die 16 Gleise liegen wie in der Friedrichstraße in Berlin, sozusagen im ersten Stock. Der Autoverkehr fährt unter den Gleisen durch – eine beeindruckende viktorianische Ingenieursleistung.
U-Bahn-Eingänge im Wandel der Zeiten.




Der Blick von meinem Hotelfenster auf den Bahnhof. Ich mache einen Probelauf für morgen. Denn um 08:00 fährt mein Zug ab und der Bahnhofsangestellte empfahl mir, auf alle Fälle mindestens 15 Minuten vor der Abfahrt dort zu sein. Die Türen des Zuges schließen nämlich 3 Minuten vor der Abfahrt! Zum Glück gibt es schon ab 06:00 Uhr Frühstück im Hotel.

Anlass meiner ersten Schottland-Reise war der Besuch des Dalai Lama, der 2004 in Glasgow einen Vortrag hielt. Ich erinnere mich gern an jene Tage – und daran, wie ich anschließend dem schottischen Reisetagebuch von Theodor Fontane folgte, seinem „Jenseits des Tweed“.
Jetzt, da ich am Abend durch die Merchant City schlendere, Glasgows Kulturviertel, erkenne ich kaum etwas wieder. Faszinierend, wie selektiv das Gedächtnis arbeitet – und wie sehr sich das Stadtbild in 21 Jahren gewandelt hat. Gentrifizierung, Luxussanierungen und gezielter Abriss haben vieles verändert. Glasgow ist, wie Liverpool, erstaunlich „posh“ geworden: schick, selbstbewusst, fast mondän. Zum neuen Stadtbild gehören aber auch deutlich gestiegene Mieten und Immobilienpreise.
Die Straßen sind belebt, Pub-Musik dringt aus den Türen. Die Menschen hier haben sichtlich Spaß am Leben. In einem traditionellen Pub gönne ich mir einen Whisky aus den Highlands – ein Abschiedsgruß der Region, die mich zwei Wochen lang verzaubert hat. Morgen geht die Reise weiter mit dem Interrailticket. Aber die Bilder der schottischen Landschaft, die Stille der Seen und die Weite der Moore werde ich lange in Erinnerung behalten.
