Früh starte ich in diesen Sonntag mit einem für mich eher ungewöhnlich bescheidenen Programm. Bei meiner ersten Schottland-Reise 2004 bin ich Theodor Fontanes Reisenotizen von 1858, „Jenseits des Tweed“, gefolgt. Im vergangenen Jahr fuhr ich mehr oder weniger an der Ostküste entlang. Die Highlands haben es mir angetan, und so hatte ich mir vorgenommen, mit mehr Muße zurückzukehren.
Die Straßen entlang der Lochs führen selten direkt am Ufer entlang. Meist verhindert ein etwa zehn Meter breiter Baumstreifen den freien Blick aufs Wasser. Und das ist vermutlich ganz gut so – denn wer könnte bei dieser landschaftlichen Schönheit noch konzentriert fahren?



Zum Glück treffe ich rechtzeitig am Parkplatz des Glenfinnan Visitor Centre ein, der kurz darauf völlig überfüllt ist. Es bleibt mir genügend Zeit, das Jacobite Monument für die gefallenen Aufständischen von 1745 am Loch Shiel zu besichtigen, bevor ich mich zum höher gelegenen Aussichtspunkt hinaufbegebe.

Ein Termin stand auf dieser Interrail-Reise von Anfang an unumstößlich fest, und den löse ich heute ein. Am Aussichtspunkt haben sich bereits um die 400 Schaulustige versammelt und warten auf den Jacobite Train, der die 84 Kilometer zwischen Fort William und Mallaig befährt. Die Wartezeit ist durchaus unterhaltsam, denn das Schattenspiel der Wolken auf den gegenüberliegenden Bergen bietet ein kostenloses Schauspiel der Natur.

Mit diesem Zug, bekannt als die ‚Harry Potter Bridge‘, fuhr Harry Potter vom Bahnsteig 9¾ nach Hogwarts – auch wenn der Bahnsteig bekanntlich in London lag. Die Dampflok pufft und pafft mit sieben Minuten Verspätung über den berühmten Viadukt. Erstaunlicherweise bleibt die Menge ruhig – meine Videoaufnahme muss also nicht nachvertont werden.
Die Wanderung zum Signal Rock bei Ballachulish wird zu meinem persönlichen Mount Everest. Die etwa 2,5 Kilometer lange Rundwanderung mit einigen Steigungen lässt mich pusten und schnaufen wie ein altes Ross. Die Aussicht vom Gipfel ist von riesigen, aus Kanada stammenden Bäumen so eingeschränkt wie meine Möglichkeiten, Bergwanderungen zu unternehmen. Die Landschaft lädt zu Wanderungen ein, doch ich muss gestehen: Seit dem Krankenhausaufenthalt vor sechs Monaten tragen mich meine Beine wieder weit, aber bergauf geht mir die Puste (noch) schnell aus.

Meinen 50. Geburtstag feierte ich noch in Tibet. Dort erklomm ich mit Leichtigkeit so manchen Berg, um ein Kloster zu besichtigen. Hier ein Blick auf das Kloster Yumbu Lagang in 3.693 m Höhe. Nun ja – ich bin eben auch keine 65 mehr 😉

Später nehme ich den Schlüssel aus der Box an der Haustür meiner Unterkunft und stelle den Koffer ins Zimmer. Die kurze Strecke von Caol, einem etwas außerhalb liegenden Stadtteil, nach Fort William fahre ich trotzdem mit dem Auto – Bequemlichkeit siegt über Prinzipien. Die 15.757 Einwohner von Fort William bieten ihren zahlreichen Gästen ein erstaunlich vielfältiges Angebot an internationalen Restaurants. Ich entscheide mich für ein indisches Lokal und trinke dazu ein italienisches alkoholfreies Bier von Brioni – Cross-over-Kitchen nennt man das wohl heutzutage.


Den Abend lasse ich früh ausklingen, nicht ohne vorher mein Reisetagebuch zu schreiben und den morgigen Tag neu zu disponieren. Die Berge werden warten müssen – es locken die zahlreichen Lochs der Gegend in den Tälern. Manchmal ist Weisheit wohl nichts anderes als das rechtzeitige Erkennen der eigenen Grenzen. Heute liegen sie offenbar niedriger, als ich dachte. Auf einer Skala von 1 bis 10 fühle ich mich heute nur 9¾.