04.10.2025 Paris (1. Tag)

Das Geräusch von vielen Reifen auf nasser Straße, das durch das verschlossene Fenster ins Zimmer drang, ließ erahnen, dass es heute nicht so gemütlich wird.

Ich bin mir nicht sicher, ob es Sprühregen als feinere Form von Nieselregen gibt. Wenn ja, dann erlebe ich ihn hier. Die Tröpfchen sind so winzig, dass sie scheinbar gar nicht zum Boden fallen, sondern lustig in der Luft unter dem aufgespannten Schirm tanzen. Der Regen moussiert – was mich wenig amüsiert. Kurz nach dem Start drehe ich um, um mir lieber eine Jeans und Regenjacke anzuziehen.

Nach 30 Minuten zu Fuß stehe ich vor dem Pantheon. Wegen eines vergangenen Festakts werden jetzt die Tribünen abgebaut, und der Zugang ist für die nächsten Tage geschlossen. Auf der Internetseite wurde das nicht erwähnt. Meine Stimmung war für einen Moment so schal wie ein Champagner, der drei Tage lang offen und vergessen neben dem Kühlschrank stand.

Ich bemerkte aber sehr schnell, dass es wohl mehr mit der Tatsache zu tun hat, dass ich noch gar nicht gefrühstückt habe. Das etwas größere Petit Déjeuner in einem der vielen Cafés in Paris war ein echter Stimmungsaufheller.

In den letzten drei Stunden fielen lediglich 8 mm Niederschlag, und laut Wettervorhersage war es auch alles, womit heute zu rechnen ist.

Und in dem Moment, wo ich das schreibe, lässt sich die Sonne zögerlich blicken. Vergeblich versuche ich, Einlass in die Bibliothek Sainte-Geneviève zu bekommen. Stattdessen gehe ich einen Umweg durch die Rue Mouffetard zur Notre-Dame.

Ab sofort ist die Rue Mouffetard meine Lieblingsstraße in Paris! Restaurants aller Geschmacksrichtungen und Läden mit feinen Leckereien gibt es hier Tür an Tür. Bei einer Fromagerie werde ich schwach und kaufe vier kleine Köstlichkeiten, um sie in der Mittagspause in der Unterkunft zu verspeisen. Der gestern gekaufte Wein, der mir eigentlich zu lieblich ist, wird ein hervorragender Begleiter sein.

In Notre-Dame sitzend, lausche ich dem Podcast, den es mit der Eintrittskarte zum Download gab. Eine makellos renovierte gotische Kirche zu sehen, ist ein einmaliges Erlebnis. 

Im vergangenen Jahr habe ich viele französische Kathedralen besucht. Obwohl sie in die Höhe gebaut wurden, dem Licht entgegen, sind sie durch die Patina der Zeit alle sehr dunkel geworden. Der Sandstein von Notre-Dame hingegen leuchtet geradezu von innen heraus. Die Reflexionen der Glasfenster auf den Säulen erinnern mich an die Sagrada Família in Barcelona – sie ist erst hundert Jahre alt.

Notre-Dame ist über 850 Jahre alt und hat vieles erlebt und gesehen: Kaiser, Könige, Kommandanten – aber im Laufe der Zeit auch viele Reisende und Flüchtlinge. Sie könnten Geschichten erzählen.

Große Geschichten erzählten auch Victor Hugo mit Der Glöckner von Notre-Dame oder Alexandre Dumas, der die Drei Musketiere in der Kathedrale auftreten lässt. Ich erinnere mich auch gern an das Lesevergnügen mit Honoré de Balzacs Vater Goriot oder Gustave Flauberts Madame Bovary – zeitlose Meisterwerke, die eine vergangene Epoche beschreiben, die lebendig wird, wenn man hier in der Kirche sitzt oder durch die Straßen der Rue Mouffetard spaziert.

Es ist kurz vor fünf, und ich warte an erster Stelle auf ein Ticket, das vielleicht zurückgegeben wird. Vielleicht habe ich Glück, und der Preis ist nicht zu hoch.

Gestern lagen die Preise bei 250 Euro – allerdings für sehr gute Karten. Ich bin im Prinzip wild entschlossen, auch diesen Preis zu zahlen, um die Oper und Aida zu sehen.  

Ich war vor vielen Jahren, zu meinem Geburtstag 1986, nach Paris gefahren und habe mir die Baustelle angesehen. Bei meinen letzten Besuchen hat es nie geklappt. Nun ist es an der Zeit, die Oper endlich von innen zu sehen. Sonst wird sie noch zu meinem Phantom.

Zehn Minuten nach fünf. Eine Dame bietet mir ein 130-Euro-Ticket zum halben Preis an. Ich gebe ihr 100 Euro – einfach, weil ich mich so freue, dass ich heute Abend Aida sehen werde und ich aus Erfahrung weiß, wie doof es ist, wenn man auf den Kosten für eine Karte sitzen bleibt.

Während ich in Erinnerungen schwelge, ziehen dunkle Regenwolken auf. Pro-palästinensische Demonstranten und jede Menge schwer bewaffneter Polizisten versammeln sich am Place de la Bastille. Ich gehe im Restaurant Les Associés „in Deckung“ – mit einem alkoholfreien Bier und einer vegetarischen Pizza.

Das Gebäude der Oper ist groß und modern. Trotzdem hat es viel zu wenig Toiletten.
Offenbar gehen Architekten nie in die Oper. 

Auf der Bühne steht ein großer Würfel. An einer Seite offen. Er lässt sich teilen, drehen und verschieben. Er dient als eindrucksvolle Kulisse – als Hintergrund für Film- und Fotoprojektionen. Gezeigt werden Bilder von Gewalt und Krieg, dem Thema der Oper –und natürlich auch von Liebe.

Eine Prinzessin liebt ihn. Er liebt Aida. Und sie ihn. Obwohl er ein Held auf dem Schlachtfeld ist, wird er lebendig eingemauert – und Aida gleich mit. Bis zu ihrem Ende singen sie ganz schön. 

Eine großartige Aufführung. Und ein großartiger Abend. Diese schlichte Inszenierung gefiel mir besser, als die Aida 2005 in der Arena von Verona. Dort war sie klassisch und pompös ist. Die uralte Arena machte sie zu einem unvergessliches Erlebnis. Heute überzeugte die Nähe, das Eigentliche.

Meditation über die wunderbaren Glasrosetten in Notre-Dame

Warum ist es so schwer zu erkennen, dass das bunte Lichtspiel der Glasfenster auf dem Sandstein der Säulen nur die scheinbare Qualität des Lichts ist? 

Warum nehmen wir es für wahr? Warum vergessen wir, dass es nur eine Erscheinung ist, wenn wir in der Kirche stehen?

Draußen vor der Kirche können wir sehen, wie die Sonne ihr weißes Licht zur Erde schickt – innerhalb von acht Minuten trifft es auf die Glasfenster von der anderen Seite.

Freiheit und Erleuchtung beginnen dort, wo wir das Spiel der Farben als das erkennen, was es ist: eine Illusion. Wer eine Illusion durchschaut, gewinnt Macht über sie – er kann mit ihr spielen, wenn es dienlich ist – oder sie loslassen.

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